Wert von Prototyping

Der Nutzen von Protoyping: Scheitern ohne Untergang

Erfolgsraten von Innovationsprojekten und der ökonomische Nutzenvon Game Thinking, Prototyping und Nutzerzentrierung.

Innovationsprojekte sind wie die Weihnachtszeit: Für die einen von uns die kontinuierliche Vorfreude auf eine intensive Zeit mit den Menschen, die man liebt. Für die anderen der blanke Horror einer To-Do-Liste in Dauerschleife, an deren abruptem Ende ein trauriges Festival der nicht erfüllten Wünsche wartet.

Die einen von uns lassen in Innovationsprojekten beschwingt wie nach vier Glühwein jede Selbstzensur fallen und feiern ihre Kreativität. Die anderen blicken voller Entsetzen auf die blanken Ergebnisse und überbieten sich mit Schreckensmeldungen: warum großartige neue Produkte durchfallen (Sloan), fast jedes Innovationsprojekt ist ein Desaster (Fortune) und 90% aller Start-ups scheitern (Forbes). Man kann diese Zahlen zu Recht als Schwarzmalerei abtun wie George Castellion & Stephen K. Markham oder sogar noch hinzufügen „in meiner Firma scheiterten sogar 100% der Innovationsprojekte, die ich selbst geleitet habe.“

Keine Alternative zu Innovationsprojekten

Alternativlos ist in Deutschland kein Wort, mit dem man viele Freunde findet. Innovation ist im Kontext der Digitalisierung allerdings wirklich alternativlos. Es gibt es auf dem Wühltisch der Innovationsmethoden ein Überangebot an Beratern, die sichere und schmerzlose Innovation auf Knopfdruck versprechen. Solche Versprechen sind töricht und bringen grundsätzlich mächtige Ansätze wie Game Thinking, Design Thinking oder Design Sprints in Verruf. Unabhängig vom Hype um Agilität und Co. haben Prototyping und Nutzerzentrierung absolut ihre Daseinsberechtigung und machen auch aus Sicht der Fraktion „Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet“ Innovationsprojekte „etwas weniger scheiße“.

Wert von prototypischer Arbeit ohne Veränderung der Erfolgschancen von Innovationsprojekten

Gehen wir davon aus, Game Thinking und andere Ansätze für prototypisches Arbeiten schaffen es nicht, die Erfolgsquote von Innovationsprojekten zu steigern. Sind sie deshalb wertlos? Nein, denn Prototyping provoziert das Scheitern von Innovationsprojekten in sehr frühen Stadien. Ideen und Hypothesen werden schnell testbar gemacht, um unmittelbar Nutzerfeedback einzuholen. Bei negativem Feedback oder auftauchenden K.O.-Kriterien werden Ideen verworfen. Für einen Bruchteil der Entwicklungskosten. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass man die Chance hat, den Rest von Budgets und Zeit für die Entwicklung von weiteren Ideen zu verwenden.

Ein Rechenbeispiel für den Nutzen von Prototyping


Ich möchte das mit einem kleinen und sehr stark vereinfachten Rechenbeispiel erklären. Wichtiger als die fiktiven absoluten Zahlen ist das relative Verhältnis von prototypischer Entwicklung zu konventioneller Entwicklung. Es gelten folgende Grundannahmen: Ein Unternehmen entscheidet sich, in einem Innovationsprojekt eine Software zu entwickeln. Es gibt mehrere erfolgsversprechende Ideen. Die Gesamtentwicklungskosten für Version 1.0 betragen 500.000 € und die Entwicklungsdauer sechs Monate. Das entspricht ungefähr den Kosten für ein siebenköpfiges Entwicklerteam über diesen Zeitraum. Die Entwicklung eines Prototyps ist für 10% der Kosten in einem Monat möglich. Das ist konservativ geschätzt: Die Faustregel für Prototypen im Bereich Games lautet 5% des Gesamtbudgets. In 50% der Fälle wird eine neue Software ein Erfolg bzw. der Prototyp erfolgreich getestet. Das ist ebenfalls eine konservative Annahme. Die oben genannten Zahlen würden eine höhere Fehlerrate implizieren. Ein positiver Test garantiert, dass die Software ein Erfolg wird. Das ist eine optimistische Annahme – nicht jeder erfolgreiche User Test führt zwangsläufig zu einer erfolgreichen Markteinführung. Bei einem negativen Test eines Prototyps wird die nächste Idee prototypisiert. Im Erfolgsfall bringt die Software einen Umsatz von 2.000.000 € ein. Laut einer Analyse beträgt bei erfolgreichen SaaS-Anbietern der Entwicklungsaufwand durchschnittlich ca. ein Viertel des Umsatzes.  

Auswirkungen ohne Prototyping:

Im ersten Fall ist die Software erfolgreich. Das Unternehmen erwirtschaftet 1.500.000 € (2.000.000 € Umsatz abzüglich der Investitionskosten von 500.000 €).

Im zweiten Fall wird die Software ein Fehlschlag. Bei herkömmlicher Entwicklung verliert das Unternehmen 500.000 € und hat bereits ein halbes Jahr keine erfolgreiche Produktinnovation auf den Markt gebracht. Die nächste Chance auf einen Erfolg ergibt sich erst ein volles Jahr nach der Entscheidung für das Innovationsprojekt.

Auswirkungen mit Prototyping:

Nehmen wir an, das Produkt wird ein Erfolg. Das Unternehmen zahlt 50.000 € für den Prototypen und muss dann die Entwicklung für 500.000 € fertigstellen. Diese Annahme ist sehr konservativ. Üblicherweise lassen sich Teile von Prototypen weiterverwenden und beschleunigen so die restliche Entwicklung des Produkts.

Das Unternehmen erwirtschaftet einen Gewinn von 1.450.000 € und hat sieben Monate anstelle von sechs Monaten benötigt.

Spannender ist allerdings der Fall des Misserfolgs. Das Unternehmen verliert im ersten Schritt nur 50.000 €. Zusätzlich hat es die Chance, in Zyklen von einem Monat weitere Prototypen zu entwickeln und zu testen, bis ein erfolgreiches Produkt auf den Markt gebracht werden kann.

Die Chance für zwei Fehlschläge hintereinander beträgt 50% * 50% = 25%. Die Chance auf sechs erfolglose Prototypen hintereinander beträgt 2%!

Betrachtet man den Zeitraum von einem Jahr, ermöglicht Prototyping beinahe sicher mindestens einen Markterfolg, während es mit dem herkömmlichen Ansatz immer noch die große Gefahr eines weiteren Fehlschlags gibt. Das bedeutet, dass Prototyping den finanziellen Erwartungswert von Innovationsprojekten deutlich erhöht!

Vollständige Nutzenbetrachtung von prototypischem Arbeiten und Nutzerzentrierung

Ich argumentiere aber auch, dass nutzerzentrierte Entwicklung – als Grundlage für die Prototypen –die Erfolgsrate sowie den Innovationsgrad und damit den finanziellen Erwartungswert von Innovationsprojekten erhöht. Dabei spielen folgende Faktoren eine Rolle:

Erstens stärken die nutzerzentrierten Methoden die Problemsensitivität des Entwicklungsteam. Beispielsweise wird im Design Thinking klassisch 50% der Zeit für die Ergründung des Problems und des Nutzers aufgewendet. Die Wahrscheinlichkeit, dass man genau das richtige Problem für den Nutzer löst, steigt dadurch deutlich. Dies erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit des Innovationsprojekts.

Zweitens erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für bahnbrechende Innovationen. Game Thinking und Design Thinking stellen Empathie für den Nutzer in den Mittelpunkt. Neue Lösungen werden aus den Bedürfnissen der Nutzer abgeleitet. Folglich erhöht sich die Chance, Lösungen zu erarbeiten, die wirklichen Nutzen stiften. Dadurch steigen die Chancen, sich von Wettbewerbern abzusetzen und deutlich höhere Zahlungsbereitschaft bei den Kunden zu wecken.

Der Einfluss von Game Thinking

 

Game Thinking als Innovationsframework fußt auf spielerischen Prozessen, die die Hemmungen der Entwickler überwinden. Darüber hinaus werden genau wie im Design Thinking divergierende Phasen, in denen Ideen kreiert, und konvergierende Phasen, in denen Ideen bewertet werden, strikt voneinander getrennt. Dadurch werden in der Ideation deutlich mehr Ideen generiert als üblich. Bei gleicher Qualität und Trefferquote der Ideen, erhöhen sich die Erfolgschancen des Projekts.

Im Game Thinking stoppen Feedback und Playtesting nicht, wenn der erste Prototyp zu Ende gebastelt ist. Stattdessen zieht sich Playtesting durch den gesamten Entwicklungsprozess. Dadurch werden sowohl die User Experience insgesamt als einzelne Funktionen und Mechaniken im Kontext der gleichen Idee kontinuierlich verbessert. Für Anhänger von „Ideas don’t matter, only execution matters“ – zu denen ich nur eingeschränkt gehöre – ist Game Thinking das richtige Framework, um aus Ideen wertvolle Produkte zu machen.

Im schlechtesten Fall sorgt Game Thinking dafür, dass die Erfolgsrate von Innovationsprojekten nur leicht höher ist, aber die Kosten des Scheiterns drastisch reduziert werden. Im besten Fall erhöht Game Thinking die Erfolgsrate und den Innovationsgrad von Innovationsprojekten.

Noch ein Wort zum Beispiel: Ich habe im Rahmen meiner akademischen Ausbildung sowohl Veranstaltungen in Wahrscheinlichkeitsrechnung als auch in Investitionsrechnung belegt (und bestanden!) – die Ungenauigkeiten der Rechnung sind mir bewusst.

tl;dr

Game Thinking erhöht zwar auch den Spaß für das Entwicklungsteam, ist aber vor allem finanziell vorteilhaft und müsste deswegen vor allem von Controllern gefordert werden.

Über den Autor

Daniel Herrmann

Ehemaliger Business-Kasper | Ausgewildertes Spielkind

Ich bin Game Thinker, Consultant und fanatischer Anhänger der Theorie Y. Meine Frau findet mich unfreiwillig komisch. Maximal 2 von 100 Menschen werden in Gesprächen mit mir dümmer.

Co-Founder von Monokel Consulting, Serious PlayScape und RokaEnergy.

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